Überlegungen zur Gestaltung gesunder gesellschaftlicher Verhältnisse

Michael Schreyer

Die menschliche Gesellschaft wird von Menschen gestaltet.

Menschliche Einsichten, Vorstellungen, Wünsche und Ideale stellen den Hintergrund für die Gestaltungsintensionen und –formen dar. Hier wird der Mensch zum Schöpfer. Nicht irgendwelche Schwierigkeiten durch Sachzwänge, sondern nur wir selbst sind für die geschaffenen Verhältnisse verantwortlich. Die Gesellschaft ist Menschenwerk.

Die kleinste Gesellschaftliche Einheit ist die Familie

Die Gesellschaft besteht aus Menschen, aus den Individuen.

Bei der kleinsten gesellschaftlichen Einheit, der Familie, ist die Verantwortung noch deutlich sichtbar, insbesondere wenn die Familie aus zwei Personen besteht. Aber auch bei allen Mensch-zu-Mensch-Beziehungen sind in der Regel die Beteiligten für die Qualität der Beziehung verantwortlich. Einschränkungen können sich durch Umwelteinflüsse ergeben.

Unternehmen, Betriebe und Institutionen als gesellschaftliche Einheiten

Bei der Gestaltung von Unternehmen, Betrieben und Institutionen wird es schon schwieriger, die Gestaltungskräfte auszumachen. Sachzwänge oder schlicht „die Verhältnisse“ werden vorgeschoben, wenn die Beteiligten ihre Motive und Tatbeiträge nicht offenbaren wollen. Auch hier sind es aber die beteiligten Menschen, die die Qualität der Gestaltung zu verantworten haben und nicht irgendwelche anonymen Kräfte. Gewisse Einschränkungen in der Offenheit durch die Wettbewerbsgesellschaft müssen als Symptome gesellschaftlicher Krankheitsbilder berücksichtigt werden

Die menschliche Gesellschaft als Gestaltungsfeld

Nochmals schwieriger wird es, die Verantwortung der Handelnden auszumachen bei der Gestaltung der Gesellschaft in den Grenzen regionaler Körperschaften, eines Landes, eines Erdteils oder gar in der globalisierten Welt.

Partnerschaft als gesellschaftliches Übungsfeld

Die Partnerschaft, die Mensch-zu-Mensch-Beziehung, ist das Übungsfeld für gesellschaftliche Gestaltung, für „Diagnose und Therapie“ der Verhältnisse. Die dabei erworbenen Fähigkeiten und Gestaltungskräfte können dann auch in den überschaubaren Zusammenhängen von Betrieben und Institutionen wirksam werden, ehe sie in größeren gesellschaftlichen Einheiten (Gemeinden, Regionen usw.) wirksam werden können. Die Gesellschaft wird heutzutage nicht mehr ausschließlich von oben nach unten gestaltet, sondern in viele Fällen auch von unten nach oben. Unsere Erziehung unter Hierarchiegesichtspunkten führt jedoch dazu, dass unser Bewusstsein diese Tatsache noch nicht hinreichend erfasst hat, um sie in die Realität umzusetzen. Wenn wir es nicht verstehen, in den überschaubaren gesellschaftlichen Einheiten menschengemäße Verhältnisse zu schaffen, wird es uns auch in den größeren Einheiten kaum gelingen.

Auf der Suche nach gesellschaftlichen Gestaltungskräften

Die folgenden Ausführungen sind ein Versuch, die gesellschaftlichen Gestaltungskräfte so zu beschreiben, dass sie als Grundkräfte, als menschliche Anlagen, sichtbar werden und zu Diagnose und Therapie gesellschaftlicher Krankheitsbilder genutzt werden können (was nutzt, was schadet dem Menschen? Was heilt, was kränkt die Gesellschaft?).

Ausgangspunkt ist das Mensch-zu-Mensch-Verhältnis, auch als mikrosoziales Verhältnis bezeichnet. Die Fortsetzung erfolgt mit Ausführungen über die Gestaltungskräfte in den überschaubaren Verhältnissen von Betrieben, Unternehmen und Institutionen, die auch als mesosoziale Ebene bezeichnet werden. Den Abschluss bilden Ausführungen über die Gestaltung gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse, die makrosoziale Ebene

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Allgemeine Gesichtspunkte zur Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen

Wie eine Vielzahl von Phänomenen zeigt, werden die zwischenmenschlichen Beziehungen offensichtlich immer schwieriger:

- Die Scheidungsrate war noch nie so hoch wie in unserer Zeit.

- Gleichzeitig sinkt die Geburtenrate auf ein bedenklich niedriges Niveau.

- Viele Paare wagen gar nicht erst den Schritt in die Ehe und ziehen ein Singledasein oder eine lockere Lebensabschnittspartnerschaft einer festen Bindung vor.

- In den Familien mehren sich die Spannungsfelder zwischen Jung und Alt, die Eltern-Kind-Konflikte, die Generationenkonflikte.

- Aber nicht nur in der kleinsten gesellschaftlichen Einheit, der Familie, kriselt es, auch die Nachbarschaftskonflikte nehmen zu und beschäftigen nicht selten die ohnedies überlasteten Gerichte.

- Ganz zu schweigen von den zunehmenden Vertragsstreitigkeiten im Alltag, bei denen es um Arbeitsverträge, Mietverträge oder Kaufverträge geht.

Aspekte zur Schaffung gesunder zukunftsorientierter Verhältnisse in Wirtschaftsbetrieben und sozialen Institutionen

In den überschaubaren Verhältnissen von Betrieben und Institutionen finden täglich eine Vielzahl menschlicher Begegnungen statt, für welche die bereits dargestellten Gestaltungsüberlegungen in vollem Umfange gelten. Die zwischenmenschlichen Beziehungen zeigen sich in den Formen kollegialer Zusammenarbeit wie auch der Zusammenarbeit generell, der Kunden- und Lieferantenbeziehungen, sowie aller Regelungen in Form von Vereinbarungen, Absprachen und Verträgen.

Betriebe und Institutionen werden stets zur Erfüllung bestimmter Aufgaben gegründet und benötigen dafür eine geeignete Verantwortungsstruktur, ein angemessenes Fähigkeitspotential in Form der Mitarbeiterschaft und ein bedarfsgerechtes Leistungsangebot. Diese Elemente müssen vorhanden sein egal ob es sich um ein Produktions-, Dienstleistungs- oder Handelsunternehmen handelt.

Die gleichen Elemente müssen vorhanden sein bei Krankenhäusern, Schulen, Kindergärten und Behörden, sofern nicht gesetzliche Vorgaben bereits die Aufgabenerfüllung in mehr oder weniger engem Rahmen beschreiben. Immer öfter aber wollen die erwähnten Institutionen ihre eigenen zukunftsorientierten Gesichtspunkte(z.B.in ihrem Leitbild) erarbeiten und in die Realität umsetzen.

Bedarfsbefriedigung in der Wirtschaft

Bei den Wirtschaftsbetrieben (Produzenten, Händler, Dienstleister und Banken) sind kundenorientierte Leistungen seit geraumer Zeit zum erklärten Marketingziel geworden, wenngleich das übergeordnete Gewinnziel dann doch das gesamte Handeln dominiert. Es ist keine Frage, dass Produkte, die am Bedarf der Kunden vorbei gehen, dem Unternehmen keinen Erfolg bringen können. Ebenso ist es keine Frage, dass Wirtschaftsbetriebe Gewinne erzielen müssen, um ihre Aufgaben auch langfristig erfüllen zu können. Darüber hinaus kennen wir aber alle die raffinierten Methoden eines hoch entwickelten Marketing, die Kunden und deren Bedürfnisse zu manipulieren, um z.T. überzogene Gewinnziele zu erreichen. Nur ein kritisches Hinterfragen führt zu der Erkenntnis in welchem Umfange tatsächliche oder suggerierte Bedürfnisse das Produktangebot bestimmen. Man denke nur an die am Image orientierten Produkte der Automobilindustrie, die über viele Jahre die Produktpalette bestimmten und die Vernachlässigung umwelt- und resourcenschonender Produktentwicklungenen zur Folge hatten. Die Palette sogenannter kreativer Bankprodukte, die nicht nur Private, sondern viele Kommunen an den Rand des Ruins gebracht haben, zeigen deutlich, dass nicht die Bedürfnisse der Kunden, sondern die Boni der Verkäufer und die Gewinne der Unternehmen das Handeln bestimmen. Dabei käme es gerade darauf an, das Marketing und die Produktentwicklung auf die wirklichen Bedürfnisse der Kunden auszurichten und sie zum Motiv von Aufgabenerfüllung und Unternehmensleistung zu machen. Die Unternehmensstruktur hat im Entwicklungsstadium der Integrationsphase (d.h. Integration der Kundenbedürfnisse in das Handeln der Unternehmen) bereits die Voraussetzungen für qualifizierte Erforschung der Kundenbedürfnisse geschaffen. Die gesamte Produktentwicklung wird in enger Kooperation mit den Kunden bewerkstelligt. Man bedenke nur welche Gesundungskräfte bei breiter Anwendung dieses Prinzips noch entwickelt werden könnten.

Bedürfnisbefriedigung in sozialen Institutionen

Krankenhäuser, Universitäten und Schulen tun sich noch etwas schwer im Umgang mit den Bedürfnissen ihrer „Kundschaft“, da hierarchie- und kompetenzgeprägtes Verhalten kein realistisches Verhältnis zu einer spezifischen Bedürfnisorientierung hat entstehen lassen. Das Verhalten der „Halbgötter in Weiß“ oder die Turbulenzen um den sogenannten Bologna – Prozess (Turbo-Abitur, Bachelor- und Masterstudiengänge statt der Diplom-Studiengänge) legen ein beredtes Zeugnis von der Bedürfnisferne in diesen Bereichen ab. In staatlichen, kommunalen und sonstigen Verwaltungen setzt sich eine bedarfsorientierte Gestaltung und ein kundenorientiertes Arbeiten auch nur sehr zögerlich durch, sofern es überhaupt als Ziel erkannt wird.

Die Bedeutung der Mitarbeiter

Allgemein anerkannt ist die Tatsache, dass die Leistungskraft und Qualität von Unternehmen und Institutionen abhängt von den Fähigkeiten und Erfahrungen, d.h.vom Können der Mitarbeiterschaft. Mit der Bezeichnung Humankapital ist aber die Einstufung der Mitarbeiter als Mittel zum Zweck der Gewinnerzielung deutlich charakterisiert: Kapital muss eben nach neoliberalem Verständnis (Gewinnmaximierung als Triebkraft der Wirtschaft) möglichst viel Zinsen bringen. Die in früheren Jahren praktizierten Ansätze zur Selbstgestaltung von Arbeitsprozessen unter Nutzung des Könnens der direkt Beteiligten und zur Entwicklung der Fähigkeitenpotentiale in der Gruppenarbeit mit Qualitätszirkeln ist nun in den Zeiten des Leistungs- und Kostendrucks in den Hintergrund getreten. Das Musterunternehmen auf diesem Gebiet, Toyota, hat den Leistungs- und Kostendruck so weit erhöht, dass Millionen von fehlerhaften Fahrzeugen produziert wurden. Das Können und die Kreativität der Mitarbeiter in der früher geübten Prozessorientierung wurde offensichtlich als entbehrlich beurteilt und den Sachzwängen geopfert. Gesunde, mitarbeiter- und menschengemäße Gestaltung der Arbeitsprozesse ist nur möglich wenn in sachgerechtem Umfang Freiräume für den Einsatz und die Entwicklung der kreativen Kräfte aller Mitarbeiter vorhanden sind.

Die Wirtschaft als Auftraggeber von Schulen und Hochschulen?

Ein deutliches Indiz für die kurzsichtige, rein nützlichkeitsorientierte Denkweise sind die Forderungen „der Wirtschaft“ an die Schulen und Hochschulen, die schnell einsatzfähige, schmalspurige Fachkräfte (Bachelor-Studiengänge) auszubilden sollen. Es darf bezweifelt werde, dass damit das kreative Potential der jungen Generation optimal entwickelt wird zur Sicherung der Standortqualitäten in Deutschland und Europa. Politiker im Schlepptau wirtschaftlicher Interessen lassen sich dazu noch zu Vollzugsgehilfen machen, ohne die Konsequenzen ihres Handelns ausreichend zu berücksichtigen.

Die geschilderte Schwarz – Weiß – Betonung soll die Tendenzen sichtbar machen. Andererseits gibt es natürlich eine beachtliche Zahl von „Grauabstufungen“ in Unternehmen und Hochschulen, die insbesondere in der Integration der Persönlichkeitsentwicklung in das Ausbildungskonzept bestehen, um umfassend gebildete Führungskräfte für eine zukünftige Gesellschaft zu entwickeln.

Gesichtspunkte zur Gestaltung der Rechtsebene

Neben der Bedürfnis – und der Fähigkeitsebene wurde bereits im ersten Teil der Ausführungen die Vereinbarungs- oder Rechtsebene als drittes Gestaltungsfeld des menschlichen Zusammenlabens beschrieben, die gesunde oder krankmachende Tendenzen im Zusammenleben beinhaltet. In Wirtschaftsbetrieben und Institutionen muss eine Vielzahl von Rechten und Pflichten definiert und vereinbart werden, die ihren Niederschlag in der Regel in Verträgen finden. Nur eine kritische Betrachtung der Realität zeigt das wahre Bild der Verhältnisse. Verträge zwischen Unternehmen werden i.d.R. unter Einschaltung von Juristen abgeschlossen, wobei nicht selten die eingebauten Fallstricke bzw. deren Erkennen das Motiv für den fachlich-juristischen Rat sind. Der Unternehmensegoismus dominiert das Verhalten und versucht das Prinzip der Rechtsgleichheit auszuhebeln. Die Zeiten der ehrlichen Kaufleute, die ihre Verträge mit Handschlag besiegelten, sind längst vorbei. Stattdessen haben wir in Europa amerikanische Verhaltensweisen übernommen. „Anwaltsfabriken“ mit nicht selten tausenden von Mitarbeitern produzieren in USA hundertseitige Verträge, wie im Falle der zahlreichen Cross-Border-Leasing-Verträge (Verkauf kommunaler Dienstleistugsbetriebe an ausländische Investoren verbunden mit anschließendem Leasing), mit denen sie deutsche Kommunen aufs Glatteis führten. Ganz so weit sind wir in Deutschland noch nicht, aber weit entfernt davon auch nicht mehr.

Im Verhältnis von Produzenten, Händlern und Konsumenten hat der Verbraucher die schwächste Position. Man lese nur aufmerksam das Kleingedruckte in Kaufverträgen von Produkten oder Lieferverträgen der Energiekonzerne. Der Glaube an die Kraft des Wettbewerbs hat sich hier einmal mehr als Irrglaube oder Illusion erwiesen. Machtausübung und Rechtsmissbrauch sind die üblichen Verhaltensweisen. Bei Institutionen und Behörden kommen Elemente obrigkeitsstaatlichen Verhaltens hinzu, die mit dem Prinzip der Rechtsgleichheit nur schwer in Einklang zu bringen sind.

Machtausübung als gesellschaftliches Krankheitsbild hat zur Entwicklung einer großen Zahl von Rechtsanwälten und Anwaltssozietäten geführt, die versuchen, die Rechte ihrer Klienten durchzusetzen. Hinzu kommt die Regelungswut der Bürokratie, noch gesteigert durch die Euro-Bürokratie in Brüssel. Man fragt sich, wie diese Entwicklung wieder in normale Bahnen gebracht werden soll. Veränderungen können jedoch nur eintreten, wenn eine ausreichende Anzahl kritischer Bürger die Verhältnisse durchschauen und in ihrem Einflussbereich alternative Lösungsansätze praktizieren wollen.

Fazit

Gesundung der Verhältnisse tritt überall dort ein wo folgende Alternativen praktiziert werden:

  • Bedarfsorientierung statt Gewinnmaximierung

  • Rechtsgleichheit statt Machtausübung

  • Sicherung optimaler Entfaltungschancen für Fähigkeiten und Kreativität in Schulen, Hochschulen und Betrieben aller Art statt Fremdbestimmung durch wirtschaftliche und politische Interessen.

Aspekte zur Gesundung der Gesellschaft

Die bisherigen Ausführungen begannen bei der kleinsten Einheit der Gesellschaft, der Familie (mikrosoziale Ebene), und führten dann zu den Unternehmen und Institutionen (mesosoziale Ebene).

Krisenhafte Erscheinungen wurden diagnostiziert, die Ursachenkomplexe aufgehellt und Aspekte zu ihrer Überwindung aufgezeigt. Die letzten drei Jahre haben nun die Krisen in der Gesamtgesellschaft so offenbar gemacht, dass die Finanzkrise sogar einen drohenden Zusammenbruch des Finanzsystems befürchten ließ, mit unabsehbaren Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft. Aber auch die Wirtschaft geriet in eine Krise, die davor durch Wachstumsfixiertheit verdeckt wurde. Wir haben in Deutschland 30 % Überkapazität im Durchschnitt aller Branchen, das stellt ein nicht zu unterschätzendes Gefahrenpotential dar. Darüber hinaus versucht der Sektor Wirtschaft seine beherrschende Rolle in der Gesellschaft permanent auszubauen: Tausende von Lobbyisten in Brüssel und Berlin „helfen“ Politikern und Abgeordneten, ihre „schwierigen“ Aufgaben zu bewältigen. Die Parteien, denen das Grundgesetz eine Mitwirkung bei der Willensbildung zuordnet, haben sich zur Beherrschung der gesamten staatlichen Macht aufgeschwungen. Mit Proporzüberlegungen werden alle bedeutenden Funktionen in Exekutive und Jurisdiktion von den Parteiapparaten besetzt. Die Demokratie ist zur Parteienherrschaft geworden, der Staatsbürger zum Stimmbürger.

Grundlagen der Gesellschaft

Besinnen wir uns auf die Grundlagen der Gesellschaft, die eine menschliche Gesellschaft ist, wie erwähnt, von Menschen für Menschen gemacht. Wie steht der Mensch in der Gesellschaft? Diese Fragestellung gilt weltweit und unabhängig von allen Gesellschaftssystemen. Die Antworten auf diese Frage geben ein Bild vom Charakter des jeweiligen Gesellschaftssystems.

  • Der Mensch mit seinen Fähigkeiten prägt das Kultur und Geistesleben der Gesellschaft.

  • Als autonome, mündige Persönlichkeit ist er Träger des Rechts- und Staatslebens, dessen Gestaltung sich mit der Bewusstseinsentwicklung der Menschen im Verlaufe der Zeiten permanent verändert.

  • Als dritte menschliche Komponente sind die Bedürfnisse die bestimmenden Faktoren des Wirtschaftslebens.

In der gesellschaftlichen Realität sind die drei Komponenten Fähigkeiten, Bedürfnisse und Mündigkeit so zu einem Geflecht verwoben, dass es einer klaren Erkenntnis bedarf, die bestimmende Komponente heraus zu finden, die als prägende einzustufen ist. Ohne klares Bild über diesen Zusammenhang sind Diagnose und Therapie der gesellschaftlichen Krankheitsbilder nicht zu bewerkstelligen.

Die gesellschaftlichen Krankheitsbilder

- in der Wirtschaft

Im Bereich der Wirtschaft ist das Krankheitsbild schnell ausgemacht: Die Nutzen- oder Gewinnmaximierung prägt das wirtschaftliche Geschehen auf der ganzen Welt. Die Bedürfnisse sind lediglich das Vehikel für das unbegrenzte Gewinnstreben der wirtschaftlichen Mächte. Mit welcher menschenverachtenden Grundhaltung die wirtschaftlichen Mächte vorgehen zeigt sich an den Machenschaften der Konzerne, von denen Monsanto wohl nur die Spitze des Eisbergs darstellt. Die Pharma- und Chemiekonzerne beweisen täglich weltweit wie die Bedürfnisse als Mittel zum Zweck genutzt werden. Zur Stabilisierung der wirtschaftlichen Macht werden Gesetzgebung und Staatsverwaltung auf der ganzen Welt so geschickt beeinflusst und beherrscht, dass die Interessenvertreter in der Rolle der Experten und der Wohltäter auftreten. Im Kultur- und Geistesleben ist es insbesondere das Bildungswesen, das zum Lieferanten hochspezialisierter Fachkräfte degradiert wird. Standort- und Arbeitsplatzsicherung sind die gängigen Argumente, bei denen alle eigentlich Verantwortlichen einknicken, die die weltweit agierenden Konzerne in die Schranken zu weisen hätten. Nicht das Diktat des Marktes, sondern der Nutzen für die menschliche Gesellschaft und den einzelnen Menschen muss in Zukunft das Geschehen bestimmen.

- im Geldwesen

Seit der sogenannten Subprime – Krise (Geschäfte mit wertlosen Hypotheken) in Amerika, die zum Auslöser einer umfassenden Krise des Finanzsystems wurde, ist der Finanzsektor immer mehr zum beherrschenden Thema geworden. Dabei suggeriert die Verbindung von Finanz- und Wirtschaftskrise, dass es sich hier um ein und denselben Themenkomplex handelt. Nur eine differenzierte Betrachtungsweise kann die Realitäten erkennbar machen. Das Geldwesen in der Gesellschaft spielt eine so entscheidende Rolle, dass alle Regierungen sich um dessen Rettung bemühen, ohne eine zutreffende Diagnose der Krankheitsbilder in Auftrag gegeben zu haben. Also bleibt es bei der Symptombehandlung, ohne dass die eigentlichen Ursachen ins Blickfeld gerückt werden. Wo liegen diese denn nun? Geld ist eine Vereinbarung zwischen Partnern, ein Anrecht auf Güter und Dienstleistungen. Geld hat die Eigenschaft eines Rechtes und Rechte können niemals Handelsobjekte sein, denn Handel ist nur mit Waren möglich. Rechtshandel ist stets Machtentfaltung. Damit wird deutlich, dass das Geld kein Element des Wirtschaftslebens ist, sondern lediglich den Austausch von Gütern und Dienstleistungen in einer effektiven und eleganten Form ermöglicht. Banken sind also keine Wirtschaftsbetriebe sondern Institute, die die Verwaltung von Rechten als Aufgabe haben. Sie sind es, die die Güterwirtschaft mit Geld und Kapital versorgen und als eigenständige Einheiten im Rechtsbereich der Gesellschaft anzusiedeln sind, wie auch alle übrigen Institute des Geldwesens – die Zentralbanken und die Versicherungen. Da die Banken mit ihrer Rolle als Kreditversorger der Wirtschaft ihrer Meinung nach nicht mehr genügend Gewinn erwirtschafteten entstand als neues Geschäftsfeld das sogenannte Investmentbanking, der systematische Rechtshandel in großem Stil, bis hin zu den umfangreichen Spekulationen in Form von kreativen Finanzprodukten wie Derivaten, Hedgefonds und sogenannten Kreditversicherungen. Mit der eigentlichen gesellschaftlichen Rolle der Banken hat das alles nichts zu tun. Nur die großen Vermögensbesitzer akzeptieren die exorbitante Geld- und Vermögensvermehrung auf Grund von Spekulation und mit Hilfe der Wirkung des Zinseszinses. Das exponentielle Wachstum der Geldvermögen mit der permanenten Suche nach noch höheren Renditen und der davon ausgelöste Wachstumszwang erweitern das gesellschaftliche Krankheitsbild des ohnehin schon kranken Geldwesens. Die Mächtigen dieser Welt haben bisher zu verhindern gewusst, dass der Gesetzgeber seine Pflichten erfüllt und rechtliche Rahmenbedingungen schafft, die diesen Krankheitsbildern ein Ende setzen und zu einer Gesundung des Geldwesens führen würden. Alle aufgespannten Rettungsschirme der letzten Zeit führen nur zur Fortsetzung der Krankheit, bis sie irgendwann in einer Katastrophe endet.

- im Staats- und Rechtsleben

Das Krankheitsbild im Staats-und Rechtsleben wurde bereits angedeutet: die permanente Einflussnahme der Interessenvertreter auf Gesetzgebung und Staatsverwaltung, sowie die umfassende Parteienherrschaft verbunden mit der Entmündigung des Bürgers. Keine Erwähnung eines Funktionsträgers der staatlichen Verwaltung in der Presse erfolgt ohne Nennung seiner Parteizugehörigkeit. Die Bemühungen um mehr direkte Demokratie werden seit Jahren von den großen Parteien abgelehnt, um ihren Machterhalt nicht zu gefährden.

- im Kultur- und Geistesleben

Auch im Kultur- und Geistesleben der Gesellschaft versuchen Interessengruppen und Parteien ihren Einfluss geltend zu machen. Wirtschaftliche Interessen mit Politikern im Schlepptau bestimmen die Ausrichtung der Schulen und Hochschulen (z.B.Bologna-Prozess), die dann für ihre Interessen geeignete Mitarbeiter ausbilden lassen. Die Pharmakonzerne steuern die Erforschung und Prüfung von Arzneimitteln, sie beeinflussen Forschung und Lehre bis hin zur Besetzung von Lehrstühlen, um die Macht der Schulmedizin zu erhalten und alternative Richtungen zu marginalisieren.

Zum kulturellen Bereich der Gesellschaft gehört auch der Sport in all seinen Ausprägungen, denn im Sport werden menschlichen Fähigkeiten geübt, entwickelt und zum Einsatz gebracht. Es bedarf keiner komplizierten Analyse, um erkennen zu können, dass der Massensport ein Geschäft geworden ist. Hoch bezahlte Spieler und Funktionäre im Verbund mit den Medien stellen einen bedeutenden kulturellen Faktor dar, bei dem die menschlichen/sportlichen Fähigkeiten Mittel zum Zweck der Gewinnerzielung sind. Die Breitenwirkung des Sports bietet zudem eine willkommene Arena für die Werbewirtschaft und die Auftritte von Politikern.

Gesundungskräfte für die Gesellschaft

Jahrzehntelange Beeinflussung durch die Medien, die der verlängerte Arm der Mächtigen sind, haben das Bewusstsein der Menschen so weit beeinflusst, dass jedes Abweichen vom „Üblichen“ zu einer Abqualifizierung führt. So werden auch die im Folgenden dargestellten Gesundungsaspekte als Außenseitermeinung, wenn nicht gar als Spinnerei abqualifiziert. Doch nur grundsätzlich andere Ansätze sind in der Lage durch Schaffung eines neuen Bewusstseins neue Kräfte zur Schaffung einer Gesellschaft zu entwickeln, die dann nicht mächtigen Interessengruppen, sondern den Menschen insgesamt dient.

Finanzwesen

Die Finanzsphäre wird nur gesunden und eine zukunftsträchtige Entwicklung einschlagen, wenn das gesamte Geldwesen als unabhängiges Glied einer demokratischen Rechtsordnung gedacht und realisiert wird. Die Deutsche Bundesbank war bereits mit der Gründung der Bundesrepublik als unabhängiges Institut von wirtschaftlichen und politischen Interessen installiert. Die Entwicklung der letzten Jahre hat aber in die umgekehrte Richtung geführt und heute sind die Zentralbanken in Abhängigkeit von den Regierungen geraten.

Der Banksektor hat die Gesellschaft mit Kredit zu versorgen und nicht durch riskante Spekulationen und Wetten Gewinnmaximierung zu betreinen. Für Spekulation und Wetten bedarf es spezieller Einrichtungen, wie es heute bereits die Spielbanken und auch die Investmentbanken sind. Die Versorgung der Unternehmen und Institutionen mit Kapital soll heute über die Börsen erfolgen. Mit einem Umschlag von 90% der an den Börsen gehandelten Anlagen innerhalb eines Jahres dürften die Börsen auch eher Spielkasinos vergleichbar und für ihre eigentliche Aufgabe ungeeignet sein. Eine Rückführung auf ihre eigentliche Aufgabe scheint unabdingbar. Die grundsätzlichste Veränderung im Finanzwesen muss durch Revision von Zins und Zinseszins erreicht werden, durch die der fatale Wachstumszwang entsteht. Nur wenn die Behandlung dieses komplizierte Themas kein Tabu mehr darstellt kann eine Gesundung des Finanzwesens eintreten. Die Außenseiter in der ganzen Welt haben in der RegioGeld – Bewegung bereits damit begonnen.

Staats- und Rechtsleben

Eine Gesundung des Rechts- und Staatslebens erfordert eine Zügelung von Lobbyismus und Parteienherrschaft, sowie eine systematische Entwicklung der direkten Demokratie. Ein längerer Übungsweg wird dabei unvermeidlich sein, bis dieses Prinzip von der kommunalen Selbstverwaltung bis in die höchsten staatlichen Verwaltungsfunktionen praktiziert werden kann.

Bildungswesen

Eine solche Entwicklung ist nur möglich, wenn das Bildungswesen in der Lage ist, eine staatsbürgerliche Bildung und Erziehung zu gewährleisten, die auf Entwicklung zum mündigen Staatsbürger angelegt ist. Das wird nur gelingen wenn freie Schulen ohne Steuerung und Gängelung durch parteipolitisch ausgerichtete Funktionäre die Bildungsziele und die Bildungspraxis bestimmen.

Wirtschafsleben

Soll die Wirtschaft ihrer Aufgabe der Versorgung der Gesellschaft mit Gütern und Dienstleistungen gerecht werden, muss das Primat der Betriebswirtschaft abgelöst werden durch volkswirtschaftliche Entscheidungsprozesse, die ihren Ausgangspunkt beim menschlichen Bedarf haben. Unsere hoch entwickelte statistische Datenpflege kann alle wichtigen Anhaltspunkte für die Bedarfsermittlung verfügbar machen. Selbstverwaltete Gremien aus Produzenten, Händlern und Konsumentenvertretern könnten ein Netzwerk für regionale, überregionale und globale Entscheidungen bilden, die dann für eine Optimierung der Bedarfsdeckung zu sorgen haben. Mit Hilfe der seit Jahren verfügbaren Computertechnologie sind derartige Netzwerke abbildbar und können in Form von Simulationen die Auswirkungen von Entscheidungen sichtbar machen.

Zusammenfassung

Der Weg gesellschaftlicher Gesundung kann nur beschritten werden, wenn die folgenden Veränderungen eintreten:

  • Bedarfsdeckung als eigentliches wirtschaftliches Ziel statt Gewinnmaximierung

  • Verwirklichung des Gleichheitsgrundsatzes und Überwindung von Lobbyismus und Parteienherrschaft durch mehr direkte Demokratie

  • Die Entwicklung von staatsbürgerlichem Bewusstsein und Kraft für Selbstgestaltung und Selbstverwaltung durch die Förderung freier Kultur- und Bildungseinrichtungen.

Nachwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

der Verfasser hat mit diesem Text den Versuch unternommen, ohne anthroposophisches Vokabular Inhalte der Dreigliederung des sozialen Organismus darzustellen, um die Verständlichkeit bei einer heutigen Leserschaft zu erleichtern. Die Phänomene und die Lösungsansätze sprechen für sich selbst und bedürfen keines Rückgriffs auf Zitate aus der anthroposophischen Literatur. Die Beurteilung ob der Versuch gelungen ist überlasse ich gern der Leserschaft.

April 2011
Michael Schreyer


Michael Schreyer studierte Betriebswirtschaft in Frankfurt/Main. Er arbeitete als Berater für Organisationsentwicklung in Unternehmen und war 15 Jahre lang Geschäftsführer mittelgroßer Unternehmen. Ab 1990 ist er selbständiger Unternehmensberater, Schwerpunkte Strategieentwicklung, Organisationsentwicklung.

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